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Geno-Impuls Nr. 11

Schritt für Schritt zu einer Organisationsform die Mitglieder, Kunden und Mitarbeiter begeistert und die verlorene Marktanteile zurück holt

Von Thomas M. Brösamle

 

Was können wir von der menschlichen Evolution für moderne Organisationsentwicklung lernen? Eine ganze Menge - klingt komisch, ist aber so. Aber nun langsam und der Reihe nach...

 

 

Abgesehen von den letzten vielleicht fünf- bis zehntausend Jahren der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit lebte und entwickelte sich dieser über viele hunderttausend Jahre in sozial überschaubaren Einheiten von vielleicht 60 bis 100 Personen. Was charakterisierte diese Gemeinschaften? 

 

  1. Es kannten sich alle untereinander, es waren ja überschaubare Größenordnungen - es gab also eine hohe soziale Dichte aufgrund der "Dorfgröße". Diese führte vermutlich zur Bildung von natürlichen, sozialen Hierarchien in der Gemeinschaft entlang Seniorität, persönlichen Stärken und Erfahrungen - schließlich musste das gemeinsame Überleben gesichert werden.
  2. Des Weiteren differenzierte sich die Arbeitsteilung sukzessive aus; die Spezialisierung schritt unaufhörlich voran. Jeder machte in der Gruppe das, was er am besten kann, jeder hatte eine bzw. seine tragende Rolle im sozialen System, egal ob jung oder alt, egal ob Frau oder Mann, egal ob gesund oder krank. 

Hätte der Mensch nicht diesen Weg der sozialen Kooperation gefunden, dann hätte sich die Menschheit vermutlich nicht in dieser Form bzw. auch nicht in der rasanten Geschwindigkeit entwickelt. Das Phänomen der sozialen Kooperation ist übrigens auch in Form von Körper- und Kontaktpflege bei Säugetieren und Vögeln stark ausgeprägt (sogenanntes social grooming). 

 

Der britische Psychologe Robin Dunbar hat sich wissenschaftlich mit diesem Phänomen beschäftigt. Nach ihm benannt ist die sogenannte „Dunbar-Zahl“, wonach ein Mensch zu maximal 120 - 150 anderen Personen kognitiv soziale Kontakte unterhalten kann. Das meint nicht nur kennen im Sinne von ich weiß den Namen oder habe diese / diesen schon einmal gesehen, sondern meint insbesondere den sozialen Hintergrund: Wer ist mit wem wie vernetzt, verwandt oder verbunden? Wer hat mit wem welche gemeinsame Vergangenheit?

 

Eine Größenordnung an Sozialkontakten die übrigens auch in Zeiten sozialer Netzwerke gilt! Warum? Weil es der "Werkseinstellung" des Menschen entspricht - es ist also unsere gemeinsame DNA bzw. der Kitt der uns aus der Evolution heraus verbindet.

 

Meine These: Wer das Phänomen hinter dieser magischen Zahl verstanden hat bzw. diesem bei der Entwicklung von Organisationen konsequent folgt, wird bei der strukturellen Gestaltung in VR Banken neue, zunächst ungewöhnlich anmutende Gedanken entwickeln...

 

Beobachtbare Beispiele gibt es trotz Landflucht, Anschwellen der Ballungszentren sowie tayloristisch geführter Konzerne einige:

 

- Im sozialen Umfeld beispielsweise die Amish People im US-amerikanischen Nordosten; diese teilen sich auf bei Überschreitung der Dorfgröße zu zwei selbstständigen Einheiten. Wer auf dem Land aufgewachsen ist, kennt vermutlich das Phänomen, dass Kinder und Jugendliche in gewisser Weise vom ganzen Dorf erzogen, aber auch geschützt werden. Man kommt einander im Dorf nicht aus („Dorfratsch und -klatsch“).

 

- Im unternehmerischen Kontext der US-amerikanische Mischkonzern W. L. Gore. Dort erfolgt eine sogenannte Zellteilung, ähnlich wie bei einer Amöbe, bei Überschreitung der Dunbar-Zahl und es entstehen zwei neue, völlig autonome Zellen. Trotz ggfs. Effizienzeinbußen werden als Teil des unternehmerischen Selbstverständnisses notwendige Maschinen und Produktionsanlagen doppelt angeschafft bzw. vorgehalten. Die Automomievorteile überwiegen den eventuellen Effizienzverlusten. Langwierige zeit- und kostenintensive Abstimmungen zwischen den Zellen sind nicht notwendig. 

 

Fazit: Überschaubare Orte bzw. kleine organisatorische Einheiten sind Kraftfelder.  

 

 

Meine Idee autonomer Zellen entlang des Wertstroms (also vom ersten Kundenkontakt bis zur Archivierung): 

 

Es werden Einheiten in Form von sogenannten "Zellen"geschaffen, welche mindestens 80 - 90 % aller notwendigen Funktionen und Kompetenzen für die eigenständige Erbringung von Wertschöpfung vereinen und völlig unabhängig von anderen Einheiten der VR Bank agieren. Größe maximal ca. 30 - 60 Personen - keine Funktionstrennung, d.h. Arbeit wird nicht funktional gedacht, sondern ganzheitlich im Sinne des Mitglieds / des Kunden. Die zentrale Steuerung wird überwunden - das Zentrum bzw. das Management unterstützt seine Zellen. Aus: „Wir erwarten...“ wird: „Wie können wir euch (also die Zelle) unterstützen?“. Aus "beherrschen / steuern" wird "dienen".   

 

Die Zellen reihen sich um das Zentrum bzw. die „Holding-Mutter“ (das wäre wohl der korrespondierende Begriff in einer hierarchisch geprägten Welt). Dort verbleiben zentrale Dienste wie IT, Revision, Compliance, Personal (nur für den Baustein Gehaltsabrechnung - siehe unten) oder Teile der Marktfolge Aktiv für den risikorelevanten Teil des Kreditgeschäftes. Diese dienen und unterstützen die Zellen mit ihrer fachlichen Expertise bzw. ihrem Spezialistenwissen. 

 

Nachfolgend eine Illustration wie so etwas aussehen könnte; in der Mitte befindet sich das Zentrum bzw. die Holding-Mutter, außen herum die autonomen Zellen - an der Außenhaut des Gebildes (= Übergang Bank - Markt) findet die Wertschöpfung statt. Über die nach außen gerichteten Pfeile wird angedeutet, dass vom Zentrum über die Zellen ein starker Fokus Richtung Markt bzw. Mitglied / Kunde gerichtet wird. 

 

Aus: Pfläging, Niels / Hermann, Silke: Komplexithoden (2015)

 

In den Zellen wird autonom und vor allen Dingen dezentral ganzheitlich beraten und weitestgehend eigenständig produziert. Es dreht sich alles um die Bedürfnisse der Mitglieder und Kunden. Jeder Mitarbeiter der Zelle erlebt und spürt jeden Tag die Kundenperspektive. Es gibt nur eine gemeinsame Priorität: Wertschöpfung mit der strengen Nebenbedingung: Einhaltung von Gesetz und Regulatorik. Man ist sich des Unterschieds zwischen Arbeit (= Arbeit für andere und damit Wertschöpfung) und Beschäftigung (= bedient interne Referenzen, also die eigene Organisation) bewusst. 

 

Nur für den komplizierten Teil der Wertschöpfung gibt es Prozesse, Regeln und Arbeitsanweisungen. Für den komplexen Teil der Wertschöpfung gibt es Prinzipien - welche im jeweiligen Wertschöpfungskontext verhandelt und umgesetzt werden (vgl. hierzu Geno-Impuls Nr. 8).

 

Abteilungen wie Personal oder Vertriebssteuerung findet man nicht, da diese durch die Organisationsform überflüssig sind bzw. die Leistungen von der Zelle selbständig erbracht werden. Neue Mitarbeiter beschafft man sich bei Bedarf selbst (in der VR Bank, über soziale Kontakte der Mitarbeiter oder eben auch direkt am Arbeitsmarkt). Die Personalenwicklung übernimmt jeder Mitarbeitende für sich selbst, in enger Kooperation mit den Kollegen in der Zelle. 

 

Die Steuerungsillusion ist überwunden (in Zeiten von Dynamik und Überraschung scheitert diese); die Zellen machen einfach nur die wertschöpfenden Geschäfte, die von Ihren Mitgliedern und Kunden in der jeweiligen Region nachgefragt werden. Innovationen versteht man ausschließlich als Mehrwert für Mitglieder und Kunden. Impulse für Innovationen entstehen automatisch durch die täglichen Kundenkontakte in den Zellen. Das Zentrum unterstützt ggfs. bei der Realisierung bzw. Umsetzung. Jede Idee hat sofort ein Budget und wird weiterverfolgt - Mitglieder und Kunden werden von Anfang an bei der Realisierung eingebunden. 

 

Zeiterfassungsprogramme oder andere Steuerungs- und Überwachungssysteme sucht man in den Zellen vergeblich. Jeder übernimmt Verantwortung für sich aber auch für die Gemeinschaft. Man begegnet sich grundsätzlich erwachsen bzw. auf Augenhöhe. Jeder erledigt das, was er am besten kann - wie von Geisterhand gemacht fügt es sich perfekt zum „großen Ganzen“ zusammen.

 

Nachdem keine zentrale Steuerung in den Zellen erfolgt, braucht es viel Führung. Die Zelle entscheidet selbst durch permanente Diskussion und Reflexion, wo es formal legitimierte Führung braucht (z.B. in Form von Teamleitern) und wo diese sozial -also durch natürliche Hierarchien- erfolgt. Durch die überschaubare (Dorf)-Größe der Zelle entsteht eine hohe soziale Dichte; Orte mit „Windschatten“ oder das oft beobachtbare Phänomen, dass sich Mitarbeitende hinter anderen oder in der Organisation „verstecken“ findet man dort nicht. 

 

Des weiteren lässt man Wettbewerb in die VR Bank bzw. deren Zellen: diese entscheiden selbständig, ob sie Leistungen vom Zentrum beziehen oder ggfs. von dritten Dienstleistern. Nur dadurch gelingt es den zentralen Einheiten wie Compliance oder IT ein Gefühl von echter Dienstleistung bzw. Unterstützung zu entwickeln (sog. synchrone oder symmetrische Schnittstellen). 

 

Die Nachteile der sogenannten "Economies of Scale" werden damit faktisch überwunden. Warum? Weil Effizienz nur einer von mehreren Treibern für Wirtschaftlichkeit ist.

 

Die Realisierung dieser Idee: 

 

Wie könnte ein ergebnisoffenes Testen einer solchen Organisationsform aussehen?

 

Der Versuch kann über ein sogenanntes Labor oder Schutzraumprojekt realisiert werden. Warum Schutzraum? Es braucht die formale Macht des Vorstands um die Projektgruppe vor „Ein- oder Durchgriffen“ der Organisation zu schützen. Idealerweise beginnt man das Projekt mit sogenannten Hypothesen: Was glaubt die Organisation bzw. die VR Bank ganz konkret mit dem Projekt anders bzw. besser machen zu können als mit der etablierten Organisationsform? Danach braucht es natürlich den Mut und den Willen, es zu versuchen; ein Scheitern ist jederzeit möglich (Kontingenz von Ereignissen...)!

 

Zum Schluss lehne ich mich ganz bewusst etwas aus dem Fenster: Diese Form der Zusammenarbeit dürfte zugleich die älteste und modernste sein und damit die genossenschaftliche Idee fit -im Sinne von Wertschöpfung- für die Zukunft machen. Warum? Weil sie nur Wertschöpfung für Mitglieder  und Kunden kennt (ich würde das einfach mal Wertschöpfungsautonomie nennen) - auf Augen, welche interne Referenzen bedienen, ist sie blind. Übrigens eröffnet diese Holdingstruktur auch neue Perspektiven und Lösungsansätze für Fusionen bzw. deren Verhandlungen - man kann sie theoretisch unendlich skalieren... 



 

 

 

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